Ästhetishche Theorie

"Spiel ist im Begriff der Kunst das Moment, wodurch sie unmittelbar über die Unmittelbarkeit der Praxis und ihrer Zwecke sich erhebt. Es ist aber zugleich nach rückwärts gestaut, in die Kindheit, wo nicht die Tierheit. Im Spiel regrediert Kunst, durch ihre Absage an die Zweckrationalität, zugleich hinter diese. Die geschichtliche Nötigung, daß Kunst mündig werde, arbeitet ihrem Spielcharakter entgegen, ohne seiner doch ganz ledig zu werden; der pure Rückgriff auf Spielformen dagegen steht regelmäßig im Dienst restaurativer oder archaistischer gesellschaftlicher Tendenzen. Spielformen sind ausnahmslos solche von Wiederholung. Wo sie positiv bemüht werden, sind sie verkoppelt mit dem Wiederholungszwang, dem sie sich adaptieren und den sie als Norm sanktionieren. Im spezifischen Spielcharakter verbündet sich Kunst, schroff der Schillerschen Ideologie entgegengesetzt, mit Unfreiheit. Damit gerät ein Kunstfeindliches in sie hinein; die jüngste Entkunstung der Kunst bedient sich versteckt des Spielmoments auf Kosten aller anderen. Feiert Schiller den Spieltrieb seiner Zweckfreiheit wegen als das eigentlich Humane, so erklärt er, loyaler Bürger, das Gegenteil von Freiheit zur Freiheit, einig mit der Philosophie seiner Epoche. Das Verhältnis des Spiels zur Praxis ist komplexer als in Schillers Ästhetischer Erziehung.

Während alle Kunst einst praktische Momente sublimiert, heftet sich, was Spiel ist in ihr, durch Neutralisierung von Praxis gerade an deren Bann, die Nötigung zum Immergleichen, und deutet den Gehorsam in psychologischer Anlehnung an den Todestrieb in Glück um. Spiel in der Kunst ist von Anbeginn disziplinär, vollstreckt das Tabu über den Ausdruck im Ritual der Nachahmung; wo Kunst ganz und gar spielt, ist vom Ausdruck nichts übrig. Insgeheim ist Spiel in Komplizität mit dem Schicksal, Repräsentant des mythisch Lastenden, das Kunst abschütteln möchte; in Formeln wie der vom Rhythmus des Bluts, die man so gern für den Tanz als Spielform verwendete, ist der repressive Aspekt offenbar. Sind die Glücksspiele das Gegenteil von Kunst, so reichen sie als Spielformen in diese hinein. Der vorgebliche Spieltrieb ist seit je fusioniert mit der Vorherrschaft blinder Kollektivität. Nur wo Spiel des eigenen Grauens innewird, wie bei Beckett, partizipiert es in Kunst irgend an Versöhnung. Ist Kunst so wenig ganz ohne Spiel denkbar wie ganz ohne Wiederholung, so vermag sie doch den furchtbaren Rest in sich als negativ zu bestimmen."

TH. W. ADORNO

Ästhetishe Theorie. Paralipomena. Frühe Einleitung. S. 317.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1970